Es blieben aber trotzdem noch genügend Menschen hier "hängen" und so konnte schon 1534 das erste Stadtoberhaupt gewählt werden. Du, alter Lindenbaum, könntest uns mit Sicherheit verraten, wieso dieser Veit Bauer (in jenen Tagen auch Paur geschrieben) von seinen Mitbürgern den Beinamen "Scheußlich" erhielt. Er soll jedenfalls ein sehr ernster Mensch gewesen sein, der sich einer recht barschen Ausdrucksweise bediente und vor dem jedermann regelrecht Angst gehabt haben soll. Nun ja, auch er ist aller Voraussicht nach einer derjenigen gewesen, den vor allem die Aussicht auf Schutz vor Strafverfolgung hierher verschlug, denn es deutet vieles darauf hin, dass es sich bei ihm um jenen Veit Bauer (oder auch Paur) handeln könnte, der als Angehöriger des "Armen Konrad" im Jahr 1514 in Württemberg in Abwesenheit zum Tode verurteilt worden war.http://de.wikipedia.org/wiki/Armer_Konrad
Direkt hinter dir wird man als eines der ersten Gebäude eine Schänke errichtet haben. So wird wohl manch durstiger Einwohner schwankend an Dir vorbei gewankt sein, nachdem er seinen Durst mehr als gestillt hatte. Und bestimmt wurde an Dir auch der eine oder andere in einen Schacht gestürzte oder von herabfallendem Gestein erschlagene Bergknappe mit zerschmettertem Leib vorbei getragen.
Der Oberharzer Bergbau um 1606
Der Herzog höchstselbst ließ sich natürlich hin und wieder unangemeldet hier blicken, um sich persönlich vom blühen und gedeihen "seiner" Bergwerke sowie der Ansiedlungen drumherum zu überzeugen. Vielleicht ist der Berghauptmann Jacob Reichardt auf seiner Flucht vor dem herzoglichen Jähzorn ja auch an der Linde vorbei gespurtet, nachdem der "harte Hund" Heinrich über ihn verärgert gewesen war und ihn auf der Hängebank der Grube "Neufang" mit seinem Dolch beinahe erstochen hätte, wenn nicht im letzten Augenblick des Herzogs Kämmerer dazwischen gegangen wäre. Und vielleicht hast Du die in einem seltenen Anfall guter Laune vom Herzog - sogar lachend - gesprochenen Worte "Es empfangen uns die Kinder, so werden uns auch die Alten gern sehen", genau hören können. Denn es waren Kinder, die den Herzog bei einem dieser Überraschungsbesuche zuerst sahen und ihn mit den Worten "Seid willkommen, gnädiger Herr" entgegenliefen. Für dieses in den Augen der Erwachsenen unziemliche und "närrische" Verhalten ihrem Landesherrn gegenüber wurden die mit "protokollarischen" Gepflogenheiten noch nicht so recht vertrauten Jungspunde von ihren Eltern umgehend gemaßregelt, aber an diesem Tag war Heinrich für seine sonstigen Verhältnisse anscheinend richtig gut drauf und so nahm er dieses "Fehlverhalten" des bergmännischen Nachwuchses ihm gegenüber gelassen hin.
Wegen der zahlreichen unterschiedlichen Charaktere und Temperamente, die auf so engem Raum aufeinanderprallten, kam es innerhalb der Einwohnerschaft immer wieder zu Auseinandersetzungen, die nicht selten tödlich endeten. Möglicherweise geschah es unmittelbar vor unserer Linde, als sich Veit Metzger und Meister Preuß nachts auf der Straße gegenseitig verwundeten. Vielleicht wurde Nickel Hinten genau vor der Linde von Bartel Seidel mit einem hiesigenorts als "Schärper" bezeichneten Bergmannsmesser niedergestochen. Vielleicht hatte der Lindenbaum auch das Haus von Hans Jugel in seinem Sichtfeld und sah, wie Bartel Obenauff erst dessen Fensterläden und Haustür mit einer Axt einschlug und am folgenden Tag Jugel selbst niederschlug. Oder stand das Haus des Bürgers Achtermann, vor dessen Tür der Bastian Ederle erstochen wurde, zufällig genau der Linde gegenüber? Wurde gar hier unmittelbar unter den Ästen und Zweigen dieser Linde ein gewisser Caspar Oder von Balzer Büttner ermordet? Auch Hans Fuchs und Jorg Gelfert könnten sich in unmittelbarer Umgebung der Linde gegenseitig mit ihren blanken Waffen verletzt haben. Und eventuell geschah es nicht weit vom Lindenbaum entfernt, dass die Ehefrau von Kunz Beinbrenner auf offener Straße von Curt Koeler derart heftig geschlagen wurde, dass sie wenig später an ihren dabei erlittenen Verletzungen stirbt. Unsere Linde könnte wohl noch viel mehr über weitere körperliche Auseinandersetzungen sowie Mord und Totschlag unter den Neusiedlern berichten. Es gäbe durchaus noch etliche weitere ähnliche Beispiele aus diesen "wilden Jahren", in denen die Ortschaft ihrem Namen wohl alle negative Ehre gemacht haben dürfte.
Wie in Teil 1 bereits kurz angerissen hing die überwiegende Mehrheit der Neuankömmlinge dem lutherischen Protestantismus an. Anfangs hielt sich der streng katholische Heinrich der Jüngere in den Glaubensangelegenheiten seiner neuen Oberharzer Untertanen zurück. Er war nun mal vor allem auf die über einschlägige bergbauliche Erfahrung mitbringenden erzgebirgischen Zuwanderer angewiesen. 1541 jedoch ließ er sich von seinem Beichtvater jedoch dazu überreden, den sowohl Wildemann als auch den kurz darauf gegründeten Nachbarort Zellerfeld betreuenden Pastor zu verjagen. Dies erboste die Einwohnerschaft jedoch in starkem Maße. Möglicherweise geschah es ja vor den Türen des inzwischen neben der Schänke hinter der Linde errichteten Rathauses, dass die Bergleute dem Herzog gegenüber drohten, wieder dorthin zurückzukehren, woher sie gekommen sind, falls dieser ihnen auch weiterhin einen "Monnich oder papistischen Pfaffen" aufzuzwingen gedenke. Vielleicht hörte unsere Linde den Herzog daraufhin ja notgedrungen sagen "Von meinetwegen nehmet euch einen lutherischen Pfarrer oder zween. Ich aber werde dafür nichts hinzugeben!".
Die örtlichen Sitten waren in den Anfangsjahren eh recht locker, denn es heisst, dass viele Einwohner "in Hurerey und Schanden wider das sechste Gebot gelebet" hätten. Zunächst wurden die "Sünder" mit Kirchenstrafen belegt und als das anscheinend nicht viel nutzte wurden sog. Schandsteine gehauen, die Frauen, welche Sitte und Ordnung nicht achteten, in der Öffentlichkeit um den Hals tragen mussten, während die "unzüchtigen" Männer ins Gefängnis verbracht wurden.
Man kann sich also vorstellen, dass zumindest die ersten Pastoren ein schweres Amt antraten. Und da es zunächst noch keine Kirche gab wurden die Gottesdienste in und um die Schänke hinter unserer Linde abgehalten. Bei gutem Wetter predigte der Pastor vom Dachbodenfester der Schänke aus zur auf dem daneben liegenden kleinen Marktplatz stehenden Gemeinde, bei schlechtem Wetter wurden die Gottesdienste in das Wirtshaus selbst verlegt. Hierbei kam natürlich nichts gescheites raus, denn es wurde sich bei diesen "Schlechtwettergottesdiensten" während der Predigt lautstark unterhalten, "Branntewein gesoffen" und "gevierblettelt", also Karten gespielt. Unsere Linde dürfte bestimmt das eine oder andere Mal das laute Gepolter des Pastors wegen dieses ungebührlichen Verhaltens vor allem seiner männlichen Schäfchen aus der Kneipe heraus bis zu sich herüber schallen gehört haben.
Mit dem Bau der ersten Kirche wurde 1542 auf einem Plateau am schräg gegenüber unserer Linde liegenden Hangstück des heutigen Gallenberges oberhalb des Innerstetales begonnen. Baumeister war übrigens das seinerzeitige "Multitalent" Veit "Scheußlich" Bauer. Der Lindenbaum konnte den Fortgang der Arbeiten von seinem Standort aus wohl recht gut beobachten. Und auch die feierliche Einweihung des Gotteshauses am 23.Juli 1543, dem Maria-Magdalena-Tag, dürfte sie interessiert verfolgt haben. Den Namen "Maria Magdalena" trägt der heutige Kirchenbau übrigens noch immer.
Rund um die Kirche herum wurde auch ein "Gottesacker" angelegt. Die Linde wird sehr wohl mitbekommen haben, wie dieser sich recht schnell mit Gräbern füllte. Denn neben Unfällen in den Bergwerken und dem gewaltsamen austragen privater Fehden sorgten auch immer wieder Seuchen wie Fleckfieber sowie Überfälle "fremden Kriegsvolks" für reichlich Nachschub auf dem Gräberfeld.
Was der alte Lindenbaum so alles an kriegerischen Auseinandersetzungen miterlebte werden wir uns aber dann im dritten Teil genauer anschauen.
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