Ouray, Colorado/USA, Anfang Januar 1884: In der Nähe der Farm des Ehepaars Margaret und Michael Cuddigan wird Mary Rose Mathews, das elfjährige Pflegekind der Cuddigans, tot aufgefunden. Da anhand seiner Verletzungen gemutmaßt wird, das Mädchen sei von den Cuddigans misshandelt worden, daraufhin von zuhause weggelaufen und infolgedessen draußen erfroren, werden die hochschwangere Margaret, ihr Ehemann (sie haben auch noch einen sieben Monate alten Sohn) sowie ihr Farmgehilfe James Carroll unter Mordverdacht verhaftet und im nahe gelegenen Minenstädtchen Ouray arrestiert.
In der Lokalzeitung "The Solid Muldoon", von der Art und Artikelgestaltung her so etwas wie eine damalige regionale BILD-Zeitung, veröffentlicht der Herausgeber David F.Day an den Folgetagen wiederholt reißerische Artikel, in denen er noch vor Prozessbeginn die Cuddigans sowie James Carroll der Tat eindeutig für schuldig erklärt, die vermeintliche Tat selbst mit allen möglichen schockierenden Details zusätzlich ausschmückt und die Bevölkerung ganz offen dazu auffordert, das Gesetz endlich selbst in die Hand zu nehmen und der Gerechtigkeit entsprechend Genüge zu tun. Da er in seinen Artikeln die Hetze gegen die inhaftierten Verdächtigen täglich immer weiter verstärkt lassen die Folgen hiervon nicht lange auf sich warten.
Am 19.Januar 1884 stürmt ein durch Day´s Artikel immer mehr aufgestachelter und letztlich wild gewordener Mob das örtliche Gefängnis, überwältigt Sheriff Charles Rawles und führt die drei Gefangenen vor die Stadtgrenzen. Die hochschwangere Margaret muss diesen Weg bei Eiseskälte barfuß durch den Schnee zurücklegen. Hier angekommen werden anschließend alle drei an den Ästen eines Baumes aufgehängt. James Carroll wird hierbei noch besonders übel mitgespielt, indem man ihn mehrmals langsam hochzieht und wieder runterlässt, bis er schließlich doch noch irgendwann erlöst wird.
In seinem "Revolverblatt" lobt Day diese Tat und die sie verübt habenden "aufrechten Bürger" sowie den "vorbildlichen Ablauf" in den allerhöchsten Tönen, würdigt die Lyncher ausdrücklich für ihren ausgeprägten Gerechtigkeitssinn und ihr "würdiges Auftreten und Verhalten" während dieser Aktion. Zudem spricht er dem Mob für "die Besonderheiten, die das hängen einer Schwangeren nun mal für alle daran Beteiligten mit sich bringe" seine Hochachtung aus. Auf das öffentliche anprangern dieses Lynchmords als Akt der Barbarei durch den katholischen Ortsgeistlichen Michael Servant entgegnet Day in seinem Blatt lediglich, man solle am besten den gesamten Klerus als Missionare zu den Apachen schicken.
Nachspiel: Der Leichnam des vermeintlichen Mordopfers Mary Rose Mathews wurde nach Denver überführt, wo schätzungsweise 12.000 Gaffer daran vorbei defilierten. Nachfolgende genauere Untersuchungen durch offizielle Stellen ergaben, dass Mary Rose Mathews nicht ermordet wurde, sondern einem tragischen Unglücksfall zum Opfer gefallen ist. Die Mitglieder des Lynchmobs als auch Day blieben jedoch unbehelligt.
Gut, mag man jetzt sagen, das war wohl ein Extremfall. Zudem begab sich diese Tragödie im "Wilden Westen", wo seinerzeit eh rauere Sitten herrschten. Heutzutage ist so etwas nicht mehr möglich und bei uns schon gar nicht. Also ehrlich gesagt, ich bin mir dahingehend leider nicht mehr so ganz sicher. Auch heute noch werden zwecks Steigerung der Auflage in manchen Druckerzeugnissen reißerische Schlagzeilen und Artikel produziert. Und dank "Scripted Reality" werden uns auch durch das Fernsehen Menschen gezeigt, die uns oftmals als verabscheuungswürdig erscheinen sollen. Auch mehr oder weniger prominente Persönlichkeiten in eigentlich verantwortungsvolleren Positionen neigen gelegentlich gern mal dazu, offen gegen eine bestimmte Bevölkerungs-/Bürgergruppe zu hetzen.
Wenn man sich dazu so manche Leser- oder Zuschauerreaktion in den jeweiligen Kommentarbereichen ansieht kann man recht schnell zu der Erkenntnis gelangen: Der Schoss ist fruchtbar noch!
Insbesondere bei sensibleren Themen wie ALG II-Bezug oder Integration triefen aus nicht wenigen Kommentaren - nicht zuletzt angestachelt durch eine von einer solchen "Persönlichkeit endlich mal öffentlich ausgesprochenen oder hingeschriebenen mutigen Wahrheit" sowie deren groß aufgemachte Verbreitung durch unsere "Leit- und Qualitätsmedien"- der blanke Hass sowie die reinste Menschenverachtung. Wenn sich da z.B. jemand freiwillig anbietet, "diese ganzen Arbeitslosen", die natürlich allesamt mit ihren Familien in leerstehenden Kasernen untergebracht werden müssten, jeden Morgen um Punkt sieben eigenhändig mit dem Knüppel zur Arbeit zu treiben, kann einem beim lesen durchaus ein eisiger Schauer den Rücken herunterrieseln. Ebenso gern wird von manchen Kommentatoren in Bezug auf ihre "Helden" sowie deren Aussagen und dabei natürlich auch für sich selbst das Recht auf freie Meinungsäußerung energisch angemahnt. Wenn nun aber in so einem Kommentarbereich jemand eine etwas andere Meinung äußert hagelt es für den Verfasser seitens der selbsternannten aufrechten Verfechter der Meinungsfreiheit nicht selten üble Beschimpfungen oder sogar auch Bedrohungen. Unter dem Eindruck solcher Kommentare von "Normalbürgern" sehe ich auch mehr praktizierte direkte Demokratie in Form von Volksabstimmungen her eher zwiespältig. Ich befürchte, dabei käme bei manchen gesamtgesellschaftlich sensiblen Bereichen - auch dank des vorherigen medialen Trommelfeuers zur Beeinflussung des "Bürgerwillens" in die gewünschte Richtung - nicht wirklich viel Gutes heraus.
Ich weiß nicht, ob sich sowohl die "mutigen Wahrheitsprediger" aus Politik, Wirtschaft, Akademikerkreisen und Journaille als auch die nur allzu willigen medialen Verbreiter dieser vermeintlich "unbequemen Wahrheiten" darüber bewusst sind, wie sehr sie dadurch mit dem Feuer spielen. Der deutsche Normalbürger ist nun mal recht leicht verführbar und neigt auch gern dazu, in Extreme zu verfallen. Die Frage, ob es so etwas wie einen speziellen deutschen Volkscharakter gibt, werde ich übrigens später auch noch in einem eigenen Beitrag stellen. Meiner Meinung nach rechtfertigt kein noch so gesteigertes öffentliches Geltungs- und Aufmerksamkeitsbedürfnis und auch keine Jagd nach hohen Auflagen und Zuschauerquoten das aufhetzen von Menschen gegeneinander. Vor allem wenn sich die Lebensumstände dank weiterer Fütterung unersättlicher, angeblich systemrelevanter Institutionen für viele von uns "Normalos" noch weiter verschlechtern werden und die Hauptschuld daran durch daran interessierte Kreise und Medien gezielt auf schwächere Bevölkerungs-/Bürgergruppen gelenkt wird sehe ich die Gefahr einer unkontrollierbaren Entladung des allgemeinen "gesunden Volkszorns" an diesen Menschen. Ouray Anno1884 könnte sich dann auch bei uns, wenn auch aus anderen Gründen und unter "moderneren Bedingungen", auch heute wiederholen.
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