Mittwoch, 28. Dezember 2011

Als der Fortschritt fort schritt

Eigentlich dachte ich bis vor wenigen Jahren, die Menschheit wäre im Laufe ihrer Geschichte gemeinsam mit dem technischen Fortschritt trotz einiger Rückschläge zwischendurch ebenfalls peu á peu in ihrer menschlichen Entwicklung fortgeschritten. Es sah für mich jedenfalls zumindest in der Bundesrepublik Deutschland eine gewisse Zeit lang durchaus danach aus. Vor allem die 1970-er-Jahre hindurch bis ca. bis in das erste Drittel der 1980-er hinein konnte man die Hoffnung haben, es liefe bei uns langsam aber dennoch stetig auf eine positive und vor allem "menschlichere" gesamtgesellschaftliche Entwicklung hinaus:
- Soziale Gerechtigkeit und sozialer Friede schienen nicht nur leere Phrasen zu sein.
- ein Arbeitsentgelt, von dem auch weniger gut qualifizierte Arbeitnehmer/-innen bei Vollzeittätigkeit wenigstens einigermaßen auskömmlich leben konnten, war eigentlich Normalität.
- Unabhängig vom jeweiligen Schulabschluss war für die große Mehrzahl der Schulabgänger/-innen die Lehrstellen-/Ausbildungsplatzsuche zumeist recht schnell erfolgreich beendet.
- Banken und Realwirtschaft arbeiteten überwiegend noch mit- und füreinander.
- Die "Normalbevölkerung" war noch nicht zu stark in einzelne Interessengruppen gespalten worden und der  menschliche Egoismus hielt sich in einigermaßen erträglichen Grenzen.
- Die Menschen wurden von Politik und Wirtschaft zumeist noch als reale Menschen wahrgenommen und nicht nur als nackte Zahlen in irgendwelchen Statistiken und Kosten-/Nutzenrechnungen. Sie wurden außerdem auch noch nicht im Sinne von "als Wählergruppe (noch) interessant/nicht mehr interessant" oder "als Marktteilnehmer (noch) benötigt/nicht mehr benötigt" und "als Arbeitskraft (noch) erforderlich/nicht mehr erforderlich" selektiert.
- Negative menschliche Eigenschaften wie z.B. Gier, nur zu gern vermeintliche Sündenböcke zu suchen und auch stets zu finden oder in Elitekreisen die dort selbst als solche empfundene "Erhabenheit"/"Ausgewähltheit" der Öffentlichkeit mit Wonne vorzuführen gab es wie eh und je auch seinerzeit, konnten jedoch noch in einem relativ erträglichen Rahmen unter Kontrolle gehalten werden.
- Die Bereitschaft zur Wahrung des inneren und äußeren Friedens war im Vergleich zu heute wesentlich höher.
Kurzum: Es gab eine Art "Leben und leben lassen"-Mentalität in vielen Köpfen sowohl bei "denen da oben" als auch bei "uns hier unten".

Doch wie so oft habe ich offensichtlich mal wieder komplett falsch gedacht. In den letzten Jahren ist der von mir vermutete menschliche Fortschritt zunehmend wieder zurück geschritten. Die Gier als Triebfeder allen Denkens und Handelns hat bei unseren "Leistungseliten" erneut die Oberhand gewonnen, menschliche Skrupel sind bei der Mehrung der eigenen Vermögen keine mehr vorhanden - alles, was ordentlich Geld bringt, ist somit erlaubt. Ob Spekulation auf Nahrungsmittel, ob Ausbeutung von Menschen als Billigstarbeitskräfte, ob Kriegführung aus rein wirtschaftlichen Gründen - wenn mit der Not und sogar dem Tod anderer Menschen Geld zu scheffeln ist fallen mittlerweile auch die letzten Hemmungen. Das jetzige System samt seiner Profiteure benötigt nun mal sehr viel Geld - reales als auch zunehmend virtuelles Spielgeld - , um sich selbst am laufen und überleben zu halten. Wo es letztlich herkommt spielt dabei keine Rolle mehr. Im Zuge dessen wurde auch die "Normalbevölkerung", nicht zuletzt dank bereitwilliger Mithilfe durch viele der sog. "Leit- und Qualitätsmedien", Schritt für Schritt wieder in eigentlich überwunden geglaubte Denk- und Verhaltensweisen "zurückgeführt".

Wurde z.B. jemand in jenen "besseren" Jahren arbeitslos wurde ihm aus der Gesellschaft heraus persönliche Anteilnahme, allgemeine Solidarität und "moralische Unterstützung" entgegengebracht ("Ach, das ist doch nicht so schlimm, das kann doch jedem passieren. Du schaffst das schon und wirst bestimmt schon bald was Neues finden!"). Heute hingegen ist ein Arbeitsuchender für nicht wenige unserer Mitmenschen ein "fauler Sack", der eh selbst an seiner Arbeitslosigkeit schuld ist, ein "Schmarotzer" oder "Parasit". Und selbstverständlich haben die Arbeitsuchenden die Hauptschuld daran, dass ich so wenig verdiene, dass meine Rente zu niedrig ist und am schlechten Wetter sowieso. Und weil es so bequem ist packen wir gern auch noch die eine oder andere weitere gesellschaftliche Minderheit zu unserem "Sündenbocksortiment" hinzu.

In vielen Betrieben gibt es mittlerweile keine Kollegialität mehr, sondern dort herrscht ein Klima des Misstrauens und der Angst vor. Mein ehemaliger Kollege ist mein Konkurrent, den ich stets aufs Neue "bekämpfen" muss und sei es durch Leistung von mehr unbezahlten Überstunden als wie er vorweisen kann. Schließlich ist es doch besser, wenn in diesen unsicheren Zeiten er fliegt statt ich. Und so ein bisschen zusätzliches Mobbing kann unter Umständen ja auch noch recht hilfreich sein, denn schließlich ist jeder sich selbst der Nächste.
Dazu sind wir alle nur noch auf reine Markt- und Wettbewerbsteilnehmer reduziert worden bzw. haben uns darauf reduzieren lassen. Also passe dich gefälligst in ausnahmslos allen Lebensbereichen den herrschenden Markt- und Wettbewerbsbedingungen an, sei rücksichtslos, denke nur an dich und dein eigenes Wohlergehen sowie dem deiner Familie oder, falls nicht, bleibst du eben ganz einfach auf der Strecke.

Wie sich ein "Wohlhabender" fühlt, wenn er mithilfe seines Laptops dabei zusieht, wie sein im Vergleich zu uns "hier unten" eigentlich schon gewaltiges Vermögen noch immer weiter wächst, kann ich nicht beurteilen. Ich war noch nie in der "Verlegenheit", über ein nennenswertes Geld- und/oder Sachvermögen zu verfügen. Ob er dabei ein Hochgefühl verspürt, wenn er seinen einen Platz vor ihm stehenden Konkurrenten in der Geldrangliste soeben überholt (ob ihm dabei also sozusagen "einer abgeht"), ob er sich Gedanken darüber macht, auf wessen Rücken und Kosten seine Vermögensmehrung eigentlich zustande kommt, ob dadurch und damit anderen Menschen möglicherweise Schaden zugefügt wird - keine Ahnung. Es ist meiner Einschätzung nach jedoch nicht auszuschließen, dass menschliche Gier den Verstand und das Gewissen blockieren könnte.

Das in den vergangenen Jahren hinsichtlich des Denkens und Handelns zunehmend wieder eher niedere menschliche Instinkte sowohl bei "denen da oben" als auch bei "uns hier unten" die Oberhand gewonnen haben ist m.E. als äußerst bedenklich einzustufen. Darin dürfte ein gewaltiger gesellschaftlicher Sprengstoff enthalten sein. Über die Ursachen, die diese niederen Instinkte reaktiviert und zu einer erneuten Vormachtstellung geführt haben könnten, mache ich mir aber in einem gesonderten Beitrag noch meinen Kopf.

Fressen oder selbst gefressen werden. Wenn jeder nur an sich denkt ist an alle gedacht. Und willst du nicht mein Bruder sein, dann hau´ ich dir den Schädel ein - derartiges mag in archaischer Zeit einmal seine Berechtigung gehabt und das eigene überleben ermöglicht haben, aber in unserer heute angeblich so "fortschrittlichen" und "zivilisierten" Welt dürfte das wohl kaum noch zeitgemäß sein. Für mich jedenfalls stellt diese Steinzeitdenke einen erheblichen Rückschritt vom (menschlichen) Fortschritt dar.

1 Kommentar:

  1. Ich denke das hat alles mit Abstiegsängsten zu tun. Da schottet man sich gerne ab. Außerdem nach unter zu treten ist in so einer Situation viel einfacher und leichter als nach oben. Nach oben buckelt der Deutsche lieber. Die Langzeitstudie über "Deutsche Zustände" vom Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung an der Universität Bielefeld kennst du vielleicht. Die kommen zu einem vernichtenden Ergebnis: steigende Fremdenfeindlichkeit, gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit,
    Hang zu rechten und nationalistischen Haltungen. Also Sozialdarwinismus pur.

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