Die Gruben warfen ergiebige Ausbeute ab und es wurden auf Veranlassung des Herzogs bedeutende Neuerungen und Verbesserungen sowohl im bergbaulichen als auch im verhüttungstechnischen Bereich eingeführt. Unsere Linde dürfte wohl das unaufhörliche Hämmern der Pochstempel des damals ca. 200m von ihr entfernt stehenden Pochwerks gut gehört haben. Und vielleicht ist ja auch der beißende Rauch der Schmelzhütte vom dem Pochwerk entgegengesetzt gelegenen Ende der Stadt bis zu ihr vorgedrungen.
Gleich schräg hinter der Linde am Hang des Badstubenberges erfolgte 1570 die Wiederaufnahme eines der bedeutendsten Stollenbauten des Oberharzer Bergbaus: Der 1551 begonnene, zwischendurch jedoch abgebrochene Vortrieb des "Oberen Wildemanns-Stollen", nun nach der herzoglichen Gemahlin "Getroster-Hedwigs-Stollen" benamt und heute unter dem Namen "19-Lachter-Stollen" bekannt. In den folgenden 120 Jahren wurde er von den Bergleuten mit Schlägel und Eisen im liegen, knien, hocken, bücken und stehen auf eine Gesamtlänge von 8.800m bis hinter Clausthal vorangetrieben. Wenn man bedenkt, dass sich ein einzelner Bergmann mit dem damaligen Werkzeug in einem ganzen Jahr gerade mal 30cm durch das Gestein voran "klopfen" konnte, kann man die dahinterstehenden Leistungen bei allen Stollenbauten erst so richtig ermessen http://www.19-lachter-stollen.de/19-Lachter-Stollen-Wildemann.html .
Doch trotz des reichen Bergsegens und aller mühsam erbrachten menschlichen Leistungen - vermögende Einwohner sind nur sehr wenige an unserem Lindenbaum vorbei gegangen. Für ihre Plackerei erhielten die Berg- und Hüttenleute auch nach heutigen Verhältnissen über alle Zeiten hinweg einen vergleichsweise kümmerlichen Lohn und das blieb auch so bis in das frühe 20. Jahrhundert hinein. Und auch die "Holzhauer" und kleinen Handwerker im Ort konnten wahrlich keine Reichtümer durch ihre emsigen Tätigkeiten anhäufen. Richtig verdient am Bergbau haben neben den jeweiligen Landesherren eben hauptsächlich die sog. Gewerken - heute würde man sie Anteilseigner, stille Teilhaber oder Investoren nennen. Und so mussten auch Kinder ihren Beitrag zum Familieneinkommen der einfachen Leute leisten: Jungs vom 10. bis 14. Lebensjahr mussten als Pochjungen (außerhalb des Oberharzes auch als "Scheidejungen" bekannt) in den Pochwerken in 12-Stunden-Schichten für einen Pfenniglohn an der "Klaubbank" stehen und das Erz aus dem tauben Gestein "herausklauben", bis sie mit 14 Jahren nach ihrer Konfirmation "reif" genug für den eigentlichen Bergmannsberuf waren. Dies war im Oberharz bis ins frühe 20.Jahrhundert hinein so üblich, denn auch mein Großvater mütterlicherseits hat ab 1914 noch selbst als Pochjunge an so einer Klaubbank gestanden. Nebenbei angemerkt: Wenn ein Junge aus irgendwelchen Gründen von seinem Pastor nicht zur Konfirmation zugelassen wurde, so blieb ihm dadurch der Zugang zum Bergmannsberuf versagt.
Da die Bergleute zumeist mit ca. 40 Jahren bereits fast vollständig "verbraucht" und von daher körperlich nicht mehr zu der harten und schweren Grubenarbeit fähig waren, wurden sie bis zu ihrer völligen "Nichtmehrverwendbarkeit" als sog. Gnadenlöhner wieder an die Klaubbank gestellt und so schloss sich ein bergmännischer (Lebens-)Kreis über die Jahrhunderte hinweg fast immer auf diese Weise.
Das raue Oberharzer Klima hat unserer Linde nichts anhaben können. Ob eisige Kälte, Unmengen von Schnee, längere Dürreperioden, Hochwasser der Innerste - sie blieb bis heute fest an ihrem Platz verwurzelt. Die Eiseskälte 1569 - 4 Wochen nach Ostern! -, bei der die Ziegen und Kühe auf den Bergweiden reihenweise erfroren sind, hat sie jedenfalls genauso gut überstanden wie das starke Innerste-Hochwasser im Juli 1572, bei dem bis auf eine sämtliche Brücken über den Fluss weggerissen wurden. Hierbei mag sie aber wohl durchaus "nasse Füße" bekommen haben. Überhaupt die Innerste - immer wieder holte sie sich im Lauf der Jahrhunderte ihre Opfer. So ertrank z.B. am 21.06.1579 eine Elisa Müller in ihren Fluten und nur 6 Tage später wurde ein gewisser Toffel Müller von ihren Wassern mitgerissen.
Vielleicht geschah es ja auch in der näheren Umgebung der Linde, als ein Pochjunge im November 1573 bei erneut starker Kälte vor der Tür des Hauses seines Großvaters erfror, weil dieser das verzweifelte klopfen und rufen seines Enkels nicht gehört hatte.
Und auch Seuchen wie das "große Sterben" (vermutlich eine Pestepidemie) im Jahr 1577 haben weder dem Lindenbaum noch der Bevölkerung den Garaus machen können.
Aus den Erfahrungen mit den Überfällen der Goslarer Bürger sowie der Söldner des Grafen von Mansfeld heraus wurde die männliche Bevölkerung um 1571 herum als "Fahnenknechte" in verschiedene Rotten eingeteilt, die - als Keimzelle der später so benannten Schützenbrüderschaft - mit je nachdem ein oder zwei "Rohren" pro Mann sowie mit Spießen und Äxten bewaffnet die Verteidigung der kleinen Stadt in unsicheren Zeiten gewährleisten sollten. Möglicherweise wurde das von den Wildemanner "Fahnenknechten" am Ostermontag 1575 in der Umgebung gefangen genommene Mitglied der Bande des Straßenräubers Hackenberg, Hans Gruel, bis zu seiner Überstellung nach Osterode ja in der der Linde direkt gegenüber liegenden "Fronveste" eingesperrt.
Der 1572 nach Wildemann gekommene Pastor Hardanus Hake, der als Verfasser der hier entstandenen "Bergchronik" eine gewisse Insider-Berühmtheit erlangt hat (Beschreibung und Geschichte des Goslarer Bergbaus am Rammelsberg sowie des Oberharzer Bergbaus vom frühen Mittelalter bis in seine Zeit hinein), wird wohl so manches Mal auf seinem Weg vom Pfarrhaus hinauf zur Kirche und wieder zurück an dem Lindenbaum vorbei gegangen sein.
1580 wurde direkt hinter der Linde das erste Rathaus, natürlich mit Schankwirtschaft, errichtet. Aber "ruhiger" ist die Einwohnerschaft trotz mehr "Zivilisation" als in den Gründungsjahrzehnten davor nicht wirklich geworden. Im selben Jahr z.B. wird Caspar Leffler von einem mit ihm im Streit liegenden Einwohner - dessen Name uns jedoch nicht überliefert wurde -, nachdem dieser wutentbrannt von seinem Pferd gesprungen war, erstochen. Über den Täter wird kurz darauf das "peinliche Halsgericht" gehalten.
Die Jahrzehnte nach Herzog Julius´ Tod im Jahr 1589 verliefen relativ ruhig. Julius´ Sohn Heinrich Julius bemächtigte sich zwar in einer Art Handstreich der im direkt angrenzenden grubenhagischen Teil des Oberharzes gelegenen Bergstädte Clausthal und St. Andreasberg sowie des in jenen Tagen lediglich als kleiner Bergflecken bestehende noch relativ junge Altenau, aber um die eigentlichen bergbaulichen Angelegenheiten kümmerte er sich in der Folge persönlich immer weniger. Dies überließ er seinem Kanzler sowie seinen fürstlichen Räten. Im Laufe der Jahre sank die Ausbeute der Gruben nach und nach, die Kosten für immer tiefer anzulegende Schächte und den damit verbundenen verstärkten technischen Aufwand führten vermehrt zu steigenden Kosten und eine extreme Trockenheit sorgte für einen fast vollständigen Stillstand der Grubenbetriebe mangels ausreichend Wasser für den Betrieb der mit Wasserkraft betriebenen Förderanlagen. So standen 1599 gerade mal noch 5 aller seinerzeit im Oberharz bestehenden Gruben in Ausbeute. Doch irgendwie wurschtelten sich die Oberharzer Bewohner auch durch diese schwierigen Zeiten hindurch.
Als 1618 der Dreißigjährige Krieg ausbrach blieb der Oberharz in dessen ersten Jahren von diesem "nationalen Großerereignis" noch relativ verschont. Wegen der Missernten im Harzvorland in den Jahren 1621 bis 1624 setzte jedoch im weiteren Verlauf eine große Teuerung für Lebensmittel und Kleidung in den Oberharzer Bergstädten ein, was aufgrund der kärglichen Einkommen der Mehrheit ihrer Bewohner zu einer regelrechten Hungersnot führte. Das Schlimmste konnte jedoch verhindert werden, als die herzoglichen Domänen Korn zu günstigeren Preisen an die Einwohner verkauften.
Durch Kriegsflüchtlinge und herumziehende Söldnergruppen wurde zu Anfang des Jahres 1626 jedoch erneut die Pest in den Oberharz eingeschleppt, durch welche zahlreiche noch immer hungergeschwächte Bewohner dahin gerafft wurden.
Am 22.März fällt zu allem Überfluss auch noch eine Abteilung von mehreren hundert Mann des kaiserlichen Feldherrn Johann t´Serclaes Graf von Tilly in die Bergstadt Wildemann ein http://de.wikipedia.org/wiki/Johann_t%E2%80%99Serclaes_von_Tilly .
Ein Musikant, der vom Kirchturm aus in den Ort hinein Alarm blies, wurde von dort oben herunter geschossen. Dieses und auch das nachfolgende Gemetzel mittels "Feuer und Schwert" unter den vielen Mitgliedern der Einwohnerschaft, die nicht mehr rechtzeitig in die Wälder hat fliehen können, sowie die Plünderung sämtlicher Häuser durch die "Kaiserlichen" konnte unsere Linde wohl nur allzu gut von ihrem Standort aus verfolgen. Sie mag dabei wohl nur verständnislos ihre Äste und Zweige geschüttelt haben, als sie an diesem Tag erneut sehen musste, was Menschen anderen Menschen alles antun können. Und nur sie würde uns heute genau sagen können, ob die Kirche von den Tilly´schen Scharen nun tatsächlich vollständig niedergebrannt wurde oder ob sie nur mehr oder minder schwere Beschädigungen davon getragen hat. Die einen Chronisten behaupten halt dies und die anderen hingegen jenes. Und ob an ihrem Stamm in den weiteren Kriegsjahren hin und wieder Mitglieder der berüchtigten "Harzschützen" (eine Art frühe Guerilla) auf ihren Streifzügen vorbeigezogen sind, das würde uns wohl ebenfalls nur sie als einzige noch verbliebene Augenzeugin berichten können http://www.harzlife.de/info/harzschuetzen.html.
Trotz der bei Beendigung des Krieges 1648 allgemein verheerten deutschen Landstriche berappelte sich der Oberharz anscheinend jedoch wieder recht schnell. So wurde in eben diesem Jahr die Gerichtsstube im Wildemanner Rathaus mit wertvollen Stuckarbeiten ausgeschmückt, die das Stadtwappen sowie die 5 Tugenden darstellten. Und auch die Silberproduktion soll um diese Zeit trotz aller noch so widrigen Umstände schon wieder erheblich höher gelegen haben als noch rd. 50 Jahre zuvor. Und im Jahre 1556 wurde eine neue und größere Kirche auf den Fundamenten ihrer - sofern diese nicht doch 30 Jahre zuvor von den "Kaiserlichen" vollständig niedergebrannt worden sein sollte - mittlerweile wohl stark baufällig gewordenen primitiveren Vorgängerin fertiggestellt und geweiht.
Die Bergstadt Wildemann um 1650; Stich nach Merian
Wer aber nun meint, im Oberharz sowie gerade in der kleinen Bergstadt Wildemann seien nach diesen mehr als turbulenten ersten 130 Anfangsjahren die nachfolgenden Jahrhunderte ereignisloser verlaufen, unterliegt damit einem großen Irrtum. So machte z.B. der seinerzeit grassierende Hexenwahn auch nicht vor den Wildemanner Einwohnern halt und veranlasste sie, einen Hexenprozess gegen eine ihrer Mitbürgerinnen zu führen. Und während des Siebenjährigen Krieges fanden erneut fremde Soldaten den Weg in diese abgeschiedene Ecke. Einige Zeit darauf reichte der lange Arm des körperlich ansonsten eher etwas kleiner geratenen Napoleon Bonaparte selbst bis hierher. Die alte Linde hat also auch weiterhin so manches gesehen und erlebt. Und einmal hätte es beinahe sogar sie selbst "erwischt". Genaueres über all das werden wir aber dann im 5.Teil erfahren.
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