Mittwoch, 1. Februar 2012

Offener Brief an unsere Verfassung

                                                Irgendwo im Nirgendwo der Bundesrepublik
                                                Deutschland, 01.02.2012


Sehr geehrte Verfassung der Bundesrepublik Deutschland,

ich hoffe, Ihre persönliche Verfassung ist Ihrem eigenen Empfinden nach zumindest noch einigermaßen zufriedenstellend. Ich hege nämlich aufgrund aktueller Ereignisse daran inzwischen erhebliche Zweifel.

Aber werfen wir zum Beginn dieses Briefes zunächst einen kurzen Blick zurück: Sie wurden seinerzeit von Ihren Schöpfern mit den allerbesten Absichten erarbeitet und Ihr Inhalt wurde diesen Absichten entsprechend formuliert (bzw. verfasst - Sie gestatten mir doch diese kleine Wortspielerei?). Sie und somit die von Ihnen beinhalteten Artikel sollen in der Ihnen zugedachten Funktion als rechtliche und politische Grundordnung aufgrund der negativen Erfahrungen während der bei Ihrer Einführung nur relativ kurz zurückliegenden "dunkleren" Jahre/Jahrzehnte deutscher Geschichte dafür sorgen, dass dieser neue deutsche Staat namens Bundesrepublik Deutschland stets auf die Bedürfnisse aller darin lebenden Menschen ausgerichtet sein sollte. Durch die in Ihnen festgelegten Grundwerte, die der Freiheitssicherung und der Machtbegrenzung dienen sollen, wurde Ihnen sozusagen eine Schutzfunktion für alle in der Bundesrepublik Deutschland ansässigen Menschen zugewiesen.

Heute jedoch muss man leider feststellen, dass Sie einigen Herrschaften in führenden Politik- und Wirtschaftskreisen inzwischen wohl eher zu einem Dorn im Auge geworden sind. Bei manchen dort zu treffenden Entscheidungen werden Sie anscheinend einfach nur noch als störend empfunden. In den vergangenen Jahren wurden schließlich verstärkt diverse vom Bundestag verabschiedete und nachfolgend erlassene Gesetze von den rotrobigen Richtern des Ihren Namen tragenden Gerichts wegen verfassungsrechtlicher Bedenken, Mängel und gelegentlich sogar Verfassungswidrigkeit mal mehr, mal weniger schnell wieder "einkassiert". Obwohl bei manchen Urteilen wiederum könnten sich auch hin und wieder mal gewisse Zweifel an der Überparteilichkeit und parteilichen Unabhängigkeit der Verfassungsrichterschaft einstellen. Schließlich entscheidet für die Auswahl zur Besetzung eines solchen Richteramtes bei nicht wenigen Kandidaten nicht zuletzt auch das passende Parteibuch  - je nachdem halt, welche Partei gerade die Regierungsmehrheit stellt. Ob solche Richter wirklich immer und ausschließlich nach bestem Wissen und Gewissen die strittigen Artikel, die verhandelt werden müssen, auslegen erscheint mir da dann doch eher fraglich. Sind unter solchen Umständen in Amt und Würden gelangte Juristen wirklich Ihre unabhängigen und unvoreingenommenen Hüter, die sie eigentlich darstellen sollen?

Ihr Name wird auch gern immer wieder mal missbraucht. Unter dem Deckmantel, Sie angeblich schützen zu müssen, werden derzeit sogar demokratisch gewählte Bundestagsabgeordnete von Angehörigen der zu Ihrem Schutz  eingerichteten Behörde überwacht, ja sogar durch die - die eigentlichen Kompetenzen dieser Einrichtung überschreitende - Anwendung geheimdienstlicher Methoden bespitzelt. Darunter befinden sich übrigens sogar Abgeordnete, die Ihre Schützer kontrollieren sollen, damit diese sich zu Ihrem Schutz nicht verfassungswidriger Methoden bedienen. Wenn das nicht mindestens paradox ist weiß ich es auch nicht. Das in Ihnen keine bestimmte Wirtschaftsordnung festgeschrieben wurde wissen Sie ja selbst am besten. Wieso dann Personen oder auch Parteien, die einen Wirtschaftssystemwechsel anstreben, Ihre erklärten Feinde sein sollen will sich mir deswegen irgendwie nicht so recht erschließen.
Naja, und das Ihre Schützer in der "extremen" politischen Gegenrichtung der aktuell überwachten vermeintlichen "Verfassungsfeinde" seit geraumer Zeit bereits über eine nicht unerhebliche Sehschwäche verfügen dürfte für Sie, liebe Verfassung, auch nicht unbedingt etwas Neues darstellen.

Interessant hierbei ist zudem, aus welcher Ecke Ihre Freunde und Beschützer so kommen. In diesem sich eigenmächtig und ungefragt zu Ihrem Freundeskreis zählenden Personenkreis gibt es z.B. einen Chef des Bundeskanzleramts, der Sie unter Ihrem Zweitnamen Grundgesetz als "Scheiß" betitelt hat. Und seine Chefin schwadroniert munter über eine "marktkonforme Demokratie". Das heißt doch im Grunde genommen nichts anderes, als das Sie sich in Zukunft dem Willen der "Märkte", Sie sich also demnächst den Interessen und Bedürfnissen eines - im Gesamtverhältnis gesehen - eher kleinen Bevölkerungsteils, unterzuordnen haben. Davon, dass eigentlich eher die "Märkte" verfassungskonform sein müssten ist aktuell jedenfalls nirgendwo die Rede. Führen wir uns jetzt noch zu Gemüte, dass sich die gnädige Frau Bundeskanzlerin dafür einsetzt, mithilfe des sog. Fiskalpakts die ebenfalls sog. Schuldenbremse in allen Euromitgliedsstaaten in deren Verfassungen und folglich auch in Ihnen zu verankern. Dies würde nicht nur Ihre teilweise Entmachtung beinhalten, sondern zugleich einen tatsächlichen Systemwechsel zugunsten nur einer einzigen daran interessierten Gruppierung bedeuten. Falls Sie über einen Internetanschluss verfügen sollten lesen Sie sich bitte dazu einfach mal diesen durchaus erhellenden Artikel durch: http://www.nachdenkseiten.de/?p=12050

Nehmen wir nun noch den in Ihnen festgeschriebenen Artikel 20 Absatz 1 ein wenig unter die Lupe: Dort heißt es unmissverständlich: "Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat."! Schauen wir uns dazu mal an, was beispielsweise unserem jetzigen Bundesinnenminister unter dem Vorwand des Erhalts der inneren und auch äußeren Sicherheit so für Gesetze vorschweben bzw. was in einigen Bereichen bereits dahingehend in Angriff genommen wurde (Stichworte Überwachung, Einschränkungen beim Demonstrationsrecht usw.). Damit wird doch nichts anderes als ein schleichender Demokratieabbau betrieben, der so ganz nebenbei auch noch wesentliche Freiheits- und Bürgerrechte gleich mit ein- und beschneidet. Das kann doch nicht in Ihrem ureigenen Sinne sein, verehrte Verfassung, oder? Von den im Zuge der von der Vorvorgängerregierung entwickelten und 2005 umgesetzten Agenda 2010 in nicht unbedeutenden Teilen erfolgten starken Einschränkungen bürgerlicher Grundrechte der von ALG II-Bezug betroffenen Menschen - in Ihnen eigentlich für ausnahmslos alle BürgerInnen demgemäß verankert - wollen wir hier besser gar nicht erst anfangen. Wie Ihre rot berobten Hüter in Karlsruhe die betreffenden Artikel interpretieren wird mir sowieso noch lange schleierhaft bleiben.

Das der in Ihnen als solcher bezeichnete und festgeschriebene Sozialstaat vor allem seit Einführung der als "moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt" (auch unter dem Namen eines mittlerweile wegen Veruntreuung von Firmengeldern in 44 Fällen vorbestraften Ex-VW-Vorstandsmitglieds in unseren allgemeinen Sprachgebrauch eingegangenen) eingeführten diesbezüglichen "Reformen" nach und nach immer weiter ausgehöhlt und abgebaut wurde wird Ihnen sicherlich auch nicht entgangen sein. Aber es sagte ja bereits im Jahr 2004 der damalige BDI-Präsident sinngemäß, dass mit dem Fall der Mauer in 1989 endlich die Abrissbirne am Sozialstaat in Position gebracht werden konnte. Die vorgenannten Beispieläußerungen und -handlungen führender Politik- und Wirtschaftsgrößen unter Berücksichtigung der in Ihnen im Art.20 Abs.1 als demokratischer und sozialer Bundesstaat festgeschriebenen Bundesrepublik Deutschland betrachtet lassen für mich jedenfalls nur diesen Schluss zu: Verfassungswidrig denkende, sprechende und handelnde sowie einen Systemwechsel anstrebende Personen sind allem Augenschein nach in einer ganz anderen Richtung zu suchen als auch zu finden als in der weiter oben angeführten Gruppierung der z.Zt. überwachten und bespitzelten Abgeordneten. Vielleicht könnten Sie Ihre persönlichen Leibwächter/Schützer in Bund und Ländern ja mal darauf aufmerksam machen und die Überwachung dieser wahren Verfassungsfeinde energisch anregen. Denn das die eine oder andere an verantwortlicher sowie entscheidender Stelle sitzende Persönlichkeit wohl doch nicht so ganz felsenfest auf Ihrem Boden - also dem unser aller Verfassung - stehen dürfte wie sie vorgibt, sollte auch Ihnen mittlerweile bewusst geworden sein.

Wissen Sie was, liebe Verfassung? Sie tun mir irgendwie leid. Denn wer solche oder sich als solche ausgebende und aufspielende (Verfassungs-)Freunde und Beschützer hat wie Sie braucht nun wahrlich keine Feinde mehr.

Ich wünsche Ihnen, sehr geehrte Verfassung, zum guten Schluss für Ihre und folglich auch für unsere Zukunft als BürgerInnen der Bundesrepublik Deutschland die nötige Kraft und Standfestigkeit gegenüber all Ihren echten Feinden und falschen Freunden. Bleiben Sie stets gefasst und - in Anlehnung an den Standardspruch eines ehemaligen (allerdings in meinen Augen eher scheinheiligen) Fernsehpfarrers -: Passen Sie gut auf sich auf!

Mit freundlichem Gruß

Ein im Jahr 2012 um Sie, Ihre persönliche Verfassung und Ihre Zukunft als demzufolge auch um uns Bürger und Bürgerinnen samt unserer Zukunft besorgter einfacher Bürger aus dem Prekariat der Bundesrepublik Deutschland

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