Freitag, 10. Februar 2012

Assauers Alzheimer - und alle sind mit dabei

Die Nachricht traf nicht nur Fußballinteressierte wie ein Keulenschlag: "Stumpen-Rudi" Assauer leidet unter Alzheimer-Demenz! Ausgerechnet er, der Vorzeige-Macho schlechthin, der in seiner Funktion als Vereinsmanager den FC Schalke 04 aus den Niederungen des deutschen Profifußballs wieder nach oben gebracht hat - auch wenn es mit dem erneuten Gewinn der Meisterschale seit dem 7. und letzten Erfolg 1958 dann doch nicht so recht klappen wollte. Man mag es sich eigentlich gar nicht so recht vorstellen, dass diese Krankheit so einen "echten Kerl" wie Rudi Assauer überhaupt erwischen kann.
Der STERN widmet ihm samt seiner Krankheit prompt eine Titelgeschichte, andere große Tageszeitungen und Wochenmagazine berichten ebenfalls, selbst die Tagesschau bringt eine entsprechende Meldung und im ZDF wird eine halbstündige Doku über Assauer und seine Erkrankung ausgestrahlt. Wir alle sind quasi live dabei und das Interesse der Öffentlichkeit an der Berichterstattung ist riesengroß. 

Irgendwie komisch, denn wir bräuchten im Grunde genommen gar nicht die Zeitung aufzuschlagen oder den Fernseher einzuschalten, um hautnah an einer(m) Demenzerkrankten dabei zu sein. Wir bräuchten uns hierzu eigentlich lediglich ein bisschen genauer im engeren oder erweiterten Familienkreis oder in unserer unmittelbaren oder auch mal etwas entfernteren Nachbarschaft umzuschauen. Bei hierzulande derzeit ca. 1,3 Millionen Demenzerkrankten (Tendenz weiter stetig steigend) ist ein(e) davon Betroffene(r) mit Sicherheit auch in unserer Nähe vorhanden. Dumm dabei ist nur, dass wir an so eine(r)m Erkrankten "direkt vor Ort" jedoch ein eher geringeres Interesse zeigen als wie im Fall Assauer.

Ich erlaube mir übrigens zu dieser Angelegenheit meinen Senf dazu zu geben, da ich über 5 Jahre hinweg "am Stück" zunächst meine demente Mutter und gleich anschließend meinen Vater als "Einzelkämpfer" zuhause gepflegt habe. Ich möchte hier auch gar nicht weiter über diese Jahre berichten. Es war halt eine sehr harte "Schule", die aber dennoch zu meiner weiteren menschlichen Entwicklung und Reifung beigetragen hat - und das meiner eigenen Einschätzung nach durchaus erfolgreich. Es soll hier lediglich um das Interesse bzw. Nichtinteresse an Demenzerkrankten in unserem eigenen Umfeld gehen.

Viele von dieser Krankheit Betroffene ziehen sich, sobald sie im Anfangsstadium selbst bemerkt haben, dass "da oben" plötzlich etwas nicht mehr so ganz stimmig ist, zurück. Sie haben Angst, dass auch andere Leute etwas davon bemerken könnten, dass in der Folge davon über sie getuschelt wird, dass man sie für "bekloppt" hält usw. Sie schämen sich regelrecht für ihre Krankheit und meiden somit nicht zum engsten Familienkreis zählende Personen nach Möglichkeit. Das wöchentliche Damenkränzchen oder der bislang immer freudig besuchte Spielenachmittag der Kirchengemeinde, der Kegelclub oder sonstige Verein, in dem man jahrzehntelang aktiv war - von allem wird sich zurückgezogen. Und ihren nächsten Angehörigen gegenüber, denen sie ja nicht so leicht aus dem Weg gehen können, versuchen sie verzweifelt, ihre Erkrankung zu verbergen und die Fassade "Mit mir ist alles in Ordnung" weiterhin aufrecht zu erhalten. So weit, so schlecht.

Natürlich haben die "anderen Leute" schon vor diesem Rückzug festgestellt, dass mit der Gisela oder dem Jochen irgendwas nicht mehr stimmt. Schließlich hat sie/er in letzter Zeit etwas gerade erzähltes in der nächsten halben Stunde dreimal wiederholt. Oder es fielen ihr/ihm ums verrecken nicht der eine oder andere Vorname des jeweiligen Gegenübers ein. Natürlich wurde nachfolgend auch bemerkt, dass die Gisela oder der Jochen auf einmal nicht mehr am Kränzchen oder Kegelabend teilnehmen, aber was soll´s? Jede(r) muss schließlich selber wissen, was er /sie tut. Die werden schon ihre Gründe haben. 
Irgendwann trifft nun einer der "anderen" zufällig beim einkaufen einen von Giselas engeren Familienangehörigen und fragt z.B. "Sag mal, was ist denn mit deiner Mutter los? Die sieht man ja überhaupt nicht mehr.". Da die kurz vor diesem Zusammentreffen gestellte Diagnose des Facharztes den bereits von den Angehörigen gehegten Verdacht "Demenz" endgültig bestätigt hatte antwortet der/die Angesprochene wahrheitsgemäß "Sie hat Demenz und wagt sich deshalb nicht mehr unter die Leute.". Antwort darauf mit zutiefst betroffener Miene: "Ach Gott, das ist ja ganz schlimm. Nein, sowas aber auch - ausgerechnet die Gisela. Na dann grüß´ sie mal schön von mir und alles Gute! Ich muss jetzt schnell weiter, weil ich noch einiges zu erledigen habe.". Selbstverständlich wird diese Neuigkeit umgehend auch den anderen "anderen" zugetragen. Aber das war es dann auch. Von den "anderen", die sonst gern auch mal so ganz nebenher auf ein Käffchen bei Gisela vorbeigeschaut haben, lässt sich niemand mehr bei ihr blicken und das Leben im Kränzchen oder Verein geht auch ohne sie weiter seinen gewohnten Gang. Gisela "funktioniert" nun mal nicht mehr so wie früher, also aus dem Auge, aus dem Sinn mit ihr.

Auch die Nachbarn, mit denen Gisela über die Jahrzehnte hinweg stets ein sehr gutes Verhältnis hatte, zeigen die gleiche Reaktion, wenn sie von ihrer Erkrankung Kunde erhalten haben. Und sogar die Verwandtschaft in Form von Bruder, Schwester, Schwager, Schwägerin, Cousins, Cousinen, Nichten, Neffen usw. geht mit einem Schlag auf " Tauchstation". Gisela ist eben nicht mehr die vertraute und gewohnte Gisela, sie gehört darum auch irgendwie nicht mehr so richtig zu uns. Man kann mit ihr halt nicht mehr so recht was anfangen. Sorry, aber das ist nun mal leider so!
In meinem Fall hat übrigens während der gesamten 5 Jahre nicht ein einziger aus der zahlreichen und bis dahin eigentlich im Allgemeinen recht umgänglichen Verwandtschaft auch nur einmal verlauten lassen: "Falls du mal irgendwo Hilfe brauchen solltest, sag´ Bescheid!". Natürlich wussten alle sehr genau, dass ich die ersten 3 Jahre sogar "Alleinpfleger" für gleich zwei pflegebedürftige "Senioren" war. Falls man einem der "lieben Verwandten" mal begegnete gab´s aber immerhin einen aufmunternden Schulterklopfer, verbunden mit den Worten: "Also ich finde das wirklich ganz toll, wie du das mit deinen Eltern so machst und wie du das alles schaffst!" und damit hatte es sich dann aber auch. Aber das sei nur am Rande angemerkt.

Irgendwann kommt jedenfalls der Tag, an dem Gisela nicht mehr zuhause bleiben kann. Sie kommt beim allerbesten Willen nicht mehr allein zurecht und von den nächsten Angehörigen ist aus verschiedenen Gründen wie Berufstätigkeit, mangelnde körperliche und seelische Belastbarkeit, erreichen der absoluten Höchstgrenze der vorstehenden Belastbarkeit des bislang pflegerisch tätigen Angehörigen o.ä. niemand in der Lage, sie jetzt auch weiterhin in ihrer vertrauten Umgebung zu bemuttern. Also bleibt für Gisela nur der Weg ins Heim. Aber warum sollte es hier anders sein als wie zuvor zuhause? Von den "anderen" aus Kränzchen, Nachbarschaft und Verwandtschaft besucht sie auch hier niemand. Gisela existiert für diese "anderen" nur noch, wenn sie einem nahen Angehörigen über den Weg laufen: "Tach, Dieter, wie geht´s denn der Mutter?" - "Danke, für ihre Verhältnisse eigentlich recht gut. Man muss halt zufrieden sein." - "Naja, dann bestell ihr mal einen schönen Gruß von mir, wenn du wieder hinkommst. Tschüß, ich hab´s gerade etwas eilig.". Und das war es dann erneut mal wieder mit dem Interesse.

Nun gibt es mit Sicherheit mehr oder weniger gute Gründe für diese Verhaltensweise der "anderen" hinsichtlich der Kontaktvermeidung mit Gisela. Zum einen sind es mit Sicherheit Berührungsängste und Unsicherheiten: "Wie gehe ich richtig damit um?" bzw. "Wie verhalte ich mich Gisela gegenüber?". Zum anderen aber vermutlich auch Angst. Angst davor, quasi Auge in Auge mit dem konfrontiert zu werden, was mich selbst in vielleicht schon wenigen Jahren treffen könnte: "Sehe und erlebe ich Gisela jetzt, dann sehe und erlebe ich vielleicht mich selbst in 5, 10 oder 20 Jahren. Wenn ich jedoch Gisela nicht besuche, dann werde ich mit diesen unbequemen Vorstellungen auch nicht konfrontiert.". Die Kontaktvermeidung ist also meines Erachtens auch eine Art Selbstschutz und dient der Verdrängung hinsichtlich der Möglichkeit einer zukünftigen eigenen Demenzerkrankung.

Ich frage mich nun: Wieso vermeiden die meisten Menschen den direkten Kontakt zu Demenzkranken in ihrer unmittelbaren Umgebung, verfolgen aber mit großer Anteilnahme die Berichterstattung über Rudi Assauer? Wahrscheinlich weil er - neben der Tatsache, dass er natürlich ein Prominenter ist - für sie "weit weg" ist, sie ihn und seine Krankheit eben nicht direkt/real vor sich sehen und "live" erleben können. Sie werden folglich auch hier nicht mit der Möglichkeit einer späteren persönlichen Betroffenheit mit einer Demenzerkrankung "von Angesicht zu Angesicht" konfrontiert. Da kann man natürlich getrost aus der Ferne die Geschichte mitverfolgen - es ist halt unpersönlicher als wenn man sich "live und in Farbe" mit den Demenzkranken vor der eigenen Haustüre befassen würde.

Eine Anmerkung zum Schluss in eigener Sache: Derzeit arbeite ich an einer schriftlichen Auf-, Ab- und Verarbeitung meiner persönlichen Erfahrungen und Erlebnisse während meiner Zeit als "Pflegeperson". Es gibt natürlich schon diverse Schriftwerke auf dem Buchmarkt, in denen pflegende Angehörige ihre diesbezüglichen Erfahrungswerte der daran interessierten Öffentlichkeit mitteilen. Um mich von diesen zumeist rein chronologischen Schilderungen der Ereignisse ein wenig abzuheben tue ich dies in Form von Essays (deswegen auch der Arbeitstitel "Demenz-Essays"), die sich neben der jeweiligen Phase der Krankheit auch etwas ausführlicher mit allem, was mit ihr in engerem Zusammenhang steht wie z.B. die erkrankten Angehörigen vor der Krankheit, ambulante Pflegedienste, die letztlich dann doch unvermeidliche Heimunterbringung, der in diesem Beitrag angesprochenen "Kontaktvermeidung" durch der/dem Erkrankten einst nahe stehende Personen u.ä. befassen. Es wird darin auch keine Selbstbeweihräucherung meinerseits betrieben. Ich gehe durchaus selbstkritisch mit meiner Tätigkeit als Pflegeperson um und verschweige auch nicht, dass sich während dieser Zeit nicht selten auch mal weniger "schöne" Gedanken und Gefühle wie z.B. Wut, manchmal sogar regelrechter Hass auf die mir anvertrauten Menschen, bei mir einstellten. Es gibt zudem zur "Auflockerung" zwischendurch auch immer wieder mal etwas eher ungewöhnlichere Abschnitte wie z.B. ein - logischerweise rein fiktives - "Interview mit der Demenz".
Ganz Profi, der er nun mal trotz allem immer noch ist, vermarktet Rudi Assauer seine Krankheit natürlich ebenfalls in Buchform, um daraus nicht zuletzt auch einen finanziellen Gewinn zu ziehen. Der Erfolg seines Buches dürfte aufgrund der großen medialen und dadurch gewährleisteten auch allgemeinen öffentlichen Aufmerksamkeit durchaus vorprogrammiert sein.
Wetten, dass ich hingegen für mein "Werk" keinen Verlag finden werde? Und falls auf unwahrscheinlich-wundersamerweise doch, dass sich die Verkaufszahlen dann in einem höchst überschaubaren kleinen Rahmen halten dürften? Mein Name ist nun mal nicht Rudi Assauer, ich kenne auch leider nicht die "richtigen" Leute, die die notwendige Fürsprache für eine Veröffentlichung bei einem Verlag einlegen könnten. Ich bin halt lediglich auch nur einer von vielen vor der eigenen Haustür meiner Nachbarn sowie der sonstigen "anderen" und von daher nicht weit genug von ihnen entfernt - so wie eben der "Stumpen-Rudi".

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